Die Geschichte der Kalligraphie in Ostasien


Übersicht

Vorbemerkung
Die chinesische Schrift

Panzer- und Knochenschrift
Bronze- und Steininschriften
Siegelschrift und Holztäfelchen
Kanzleischrift
Die klassische Trias

Verbreitung der chinesischen Schrift
Entwicklung in Japan




Vorbemerkung

Da ich mich über japanische Materialien an die Thematik annähere, gebe ich im folgenden lediglich die japanische Lesung zu zentralen Begriffen wie etwa den Schrifttypen an. 
Diese Einführung ist notwendigerweise sehr oberflächlich. 


In der folgenden Beschreibung werden auch Stile aus Epochen einbezogen, die, streng genommen, Schrift als Kunstform noch nicht kannten. Ob alte Orakelknochen oder Verwaltungsdokumente als Kalligraphie gelten, wird hier nicht diskutiert. 
Aber als Teil der Schriftgeschichte sind sie im Rahmen der Kalligraphiegeschichte bedeutsam.

Die chinesische Schrift

Das Medium der ostasiatischen Kalligraphie ist die chinesische Schrift. 
Die chinesische Schrift ging aus Piktogrammen hervor. Ihre einzelnen Bestandteile lassen sich noch heute auf diese ursprünglichen Bedeutungsträger zurückverfolgen, auch wenn die Zeichenformen im Laufe der Geschichte stark abstrahiert wurden. Daher ist ihre ein starker bildhafter Charakter zu eigen.


Abb. 1

Ganz links die archaische, ganz recht die moderne
Form des chinesischen Zeichens für Regen.
Die Abstraktion nimmt im Laufe der Schriftgeschichte zu.


Chinesische Schriftzeichen besitzen neben ihrem Lautgehalt einen Bedeutungsgehalt. 
So kann ein einzelnes Zeichen eine Bedeutung, ein Wort ausdrücken. In Kombination mit mehreren Zeichen können so durch die zusammengesetzte Bedeutung neue Worte gebildet werden. Die meisten Wörter im Chinesischen und Japanischen werden mit einem Zeichen oder Komposita aus zwei Zeichen dargestellt (im Falle des Japanischen kommen dazu noch Silbenzeichen zur Anzeige der Flexion bei Verben und zur Wiedergabe von grammatischen Partikeln).


Panzer- und Knochenschrift

Die Entstehung der Schrift als ein Zeichensystem aus frühen Piktogrammen ist natürlich nicht mehr exakt nachvollziehbar. Allgemein wird aber der weite Zeitraum zwischen 4000 und 3000 vor Christus als diese Phase der Schriftgeschichte angesehen. Diese früheste dokumentierte Phase ist die Zeit der „Panzer- und Knocheninschrift“ (jap. kōkotsumoji, 甲骨文字). Diesen Namen trägt sie, da die Zeichen in Rinderknochen und Schildkrötenpanzer geritzt waren. Diese Knochen und Panzer wurden zur Prophezeiung der Zukunft genutzt. In der westlichen Literatur existiert daher auch der Begriff "Orakelknochenschrift". 
Zu jener Zeit erfüllte die Schrift als Vermittler zwischen Mensch und göttlichem Willen sakrale Funktion.


Abb. 2a.

Fragment eines Orakelknochen. 
Die Zeichen wurden in Rinderknochen oder
Schildkrötenpanzer eingeritzt.


Abb. 2b.

Die Linien von Zeichen in Panzer- und Knochen
sind gleichmäßig breit. Die Zeichen sind aufgrund
ihrer Bildhaftigkeit manchmal direkt verständlich.


Bronze- und Steininschriften

Um 1000 v.Chr. tauchen dann Zeichen als Gravuren in Bronzegegenständen wie Schwertern und Glocken, aber auch Haushaltsgeräten auf. Durch die gänzliche andere Beschaffenheit des Schriftträgers verändern die Zeichen ihre Gestalt, man bezeichnet diesen Typ als Bronzeinschriften (jap. kinbun, 金文). 

Abb. 3a.

Ein sogenanntes "Ding", ein chinesisches Ritualgefäß.
Hier dargestellt ist das "Dake-Ding", gegossen um etwa 1000v.Chr.
Das Gefäß befindet sich im Shanghai Museum.

Abb. 3b.

In die Innenseite des "Dake-Ding" sind Zeichen eingelassen.
Oben dargestellt ist ein Abzug dieser Zeichen auf der Innenseite.
Die Linien der Zeichen sind bereits formaler, weisen aber
noch die archaische Form der alten Bronzeinschriften auf.

Natürlich finden sich zu dieser Zeit auch zahlreiche Inschriften in Steinen (jap. sekibun 石文, als Überbegriff für Bronze- und Steininschriften: kinsekibun 金石文).



Siegelschrift und Holztäfelchen

Die Verwendung von Tusche in China ist bereits für die alte Form der „Panzer- und Knochenschrift“ belegt. Die ältesten Pinsel datieren zurück in die Zeit der streitenden Reiche. Die ältesten erhaltenen Schriftzeugnisse, die mit Pinsel und Tusche geschrieben wurden, datieren ebenfalls zurück in diese Epoche um 300 v.Chr. 

Abb. 4

Als die "Vier Schätze des Studierzimmers" bezeichnet
man in Ostasien Tusche, Pinsel, Reibstein und Papier.


In diesen Schriftzeugnissen sind unterschiedliche Schrifttypen zu finden, man bezeichnet sie mit dem Überbegriff der „Siegelschrift“ (jap. tensho 篆書). 

Abb. 5

Eine Steintrommel aus der chinesischen Provinz Shaanxi.
Die Zeichen sind in der "Großen Siegelschrift" geschrieben.
Die Zeichenform ist hier geordnet, der Schrifttypus unterscheidet
sich von jenem der alten Stein- und Bronzeinschriften.
Dennoch hat die Schrift noch nicht den Grad der Formalisierung
und Abstraktion der späteren "Kleinen Kanzleischrift" erreicht.


Ebenfalls mit Pinsel und Tusche wurden die Aufzeichungen auf Holz- und Bambustäfelchen verfasst. Diese Art der Aufzeichnung war sehr viel billiger, als Papier zu verwenden. Der Großteil der damaligen administrativen Dokumente wurde also auf Holz und Bambus aufgezeichnet. Aufgrund des besonderen Charakters der Zeichen auf dem engen Raum der Täfelchen und der besonderen Art, in der die Tusche sich auf dem Untergrund ausbreitet, ordnet man diese Zeichen oft der besonderen Kategorie „Mokkan“(jap. mokkan, 木簡, deutsch Holztäfelchen) zu.


Abb. 6a.

Die Täfelchen waren aus Holz oder Bambus. Falsch geschrieben Zeichen 
waren auf diesem Material leicht zu verbessern. Man schnitt sie einfach heraus.
Eines der Symbole des Kalligraphen war daher ein kleines Messer.

Abb. 6b.

Auf dem vierten Täfelchen von links ist eine lange, nach 
links wegdriftende Linie zu sehen. Diese Linien stellen eines der 
charakteristischen Merkmaleder Zeichen auf Holztäfelchen dar.

Um 200 v.Chr. wird China unter der kurzlebigen Dynastie der Qin geeinigt. Dieses Ereignis ist nicht nur für die politische Geschichte höchst bedeutend. Der erste Kaiser setzte eine große Schriftreform durch und ließ alte Dokumente zum Zwecke der Vereinheitlichung in großem Maßstab vernichten. Diese Reform umfasste auch die Festlegung eines offiziellen Schrifttyps. Der Minister Li Si (jap. Ri Shi 李斯) legte nach der Überlieferung die „Kleine Siegelschrift“ (jap. shōten 小篆) als offiziellen Schrifttypus fest. 


Abb. 7a.

Nachdem der Erste Kaiser China geeint hatte, veranlasste der
die Normierung von Maßen und Gewichten. Der obige Abzug 
stammt von einem solchen normiertem Bronzegewicht.Die Inschrift 
diente dem Beweis der Echtheit der im ganzen Land verteilten Gewichte.
Die Zeichen sind in der "Kleinen Siegelschrift" verfasst.


Als offizieller Schrifttypus wurde die „Kleine Siegelschrift“ zwar rasch von der „Kanzleischrift“ (jap. reisho 隷書) verdrängt, sie etablierte sich jedoch als allgemein verwendeter Schrifttypus für Siegelgravuren. Daher stammt auch ihr heutiger Name. In Japan werden Siegel heute noch im Alltag verwendet, anstelle der Unterschrift. Und auch in der Gegenwart ist die „Kleine Siegelschrift“ der etablierte Schrifttyp dieser Siegel.

Abb. 7b.

Ein Siegel wird in Holz geritzt. In heutigen Ausstellungen
gibt es oftmals eigene Kategorien für Siegeldrucke.


Abb. 7c.

Die Zeichen des japanischen Passes sind im Stil der "Kleinen Siegelschrift" gehalten.
Dieser Schrifttyp besitzt ein hohes Prestige. Dies wird hier durch seine Verwendung
neben dem japanischen Hoheitszeichen, dem Chrysanthemenwappen, demonstriert.


Kanzleischrift

In der Han-Dynastie war die „Kanzleischrift“ in ihren unterschiedlichen Varianten der am weitesten verbreitete Typ. Aus dieser Zeit sind eine Vielzahl an schriftlichen Erzeugnissen auf uns gekommen. Im Japanischen und Chinesischen werden die chinesischen Zeichen nach der Herrscherdynastie dieser Zeit bis heute „Zeichen der Han“ genannt (jap. kanji, chin. hanzi 漢字 bzw in vereinfachter Schreibung 汉字).

Abb. 8a.

Ein Abzug einer Steininschrift, die den Beamten Cao Quan (曹全, jap Sō Zen) rühmt.
Die stark betonten, geschwungenen horizontalen Striche sind typisch für die Kanzleischrift.


Abb. 8b.

Die Zeichen für "Reisho" (Kanzleischrift), links im modernen Stil der
Regelschrift, rechts in Kanzleischrift ausgeführt. Die Kanzleischrift
mit ihren weicheren Strichen ähnelt der modernen Regelschrift deutlich.


Die klassische Trias

Sieht man sich kurze Einführungen zur ostasiatischen Kalligraphie an, so werden darin meist die bisher aufgeführten Schrifttypen keine Erwähung finden. Oft wird die Darstellung auf die drei klassischen Hauptströmungen der Kalligraphie reduziert, die sich als Teil der orthodoxen kalligraphischen Ausbildung seit den großen Meistern der Jin-Dynastie etabliert haben. 

Diese drei Kategorien lauten Regelschrift, Laufschrift und Konzeptschrift (jap. kaisho, gyōsho, sōsho, zusammen kurz kai-gyō-sō 楷行草). Dabei stellt die Regelschrift den regulären Schrifttypus, die Laufschrift eine verbundene Variante dar. 
Anstelle von „Konzeptschrift“ wird im Deutschen auch der Begriff „Grasschrift“ verwendet. Dieser Typus geht im freien Ausdruck noch über die kursive Laufschrift hinaus, die Zeichen sind oftmals nur für den geübten Betrachter erkennbar.

Abb. 9

Von links nach rechts: Das Zeichen "Kō", chin. "Hsiao" (dt. "kindliche Pietät": Liebe und 
Respekt des Kindes gegenüber den Eltern) in Regelschrift, Laufschrift und Konzeptschrift.


Diese Typen entwickelten sich allmählich aus der Kanzleischrift. Lange existieren Mischformen (jap. kinrei 今隷), bis sich der Typus der Regelschrift als eigenständige Form etabliert. Der Abschluss dieser Entwicklung liegt in der langen Phase kultureller Blüte der Tang-Zeit (618 bis 907 n.Chr.). 
Dabei entwickeln sich die kursive Varianten parallel zur Regelschrift, eine genaue Reihenfolge ist hier nicht festzulegen. 

Mit der Herausbildung dieser drei Schrifttypen war die Entwicklung kalligraphischer Varianten im Wesentlichen abgeschlossen.

Verbreitung der chinesischen Schrift

An dieser Stelle möchte ich den Fokus auf den größeren ostasiatischen Raum ausdehnen. 
Die bisher vorgestellten Entwicklungen spielten sich alle in China ab. Von dort aus verbreiteten sich die Zeichen dann im ostasiatischen Raum. Sie sollten eines der prägenden Merkmale dieser Kultursphäre werden.
Bereits im ersten oder zweiten Jahrhundert erreicht die chinesische Schrift Vietnam und Korea. Von Korea aus erreicht sie dann irgendwann im Verlauf des 6. Jahrhunderts Japan. 



Abb. 10

Der ostasiatische Kulturkreis.


Entwicklung in Japan

Es ist anzunehmen, dass in Japan zunächst nur einige Immigranten schriftkundig waren. Im Verlauf des 7. und 8. Jahrhunderts werden dann Schriftkenntnisse auch der einheimischen Elite zugänglich. Diese Zeit markiert den Beginn der Kalligraphiegeschichte Japans.


Ohne im Detail auf die Entwicklung der japanischen Kalligraphiegeschichte bis in die Gegenwart einzugehen, sei hier jene besondere kalligraphische Kategorie erwähnt, die nur in Japan existiert, die „Kana“ (jap. 仮名, meist in Hiragana かな geschrieben).

Abb. 11a.

Eine Demonstration der verwirrenden Vielfalt der Manyōgana:
Darstellung einiger Varianten, den Laut "hi" wiederzugeben.

In Japan entwickelte sich durch den phonetischen Gebrauch der chinesichen Schrift zur Wiedergabe der eigenen Sprache ein eigenes, kompliziertes Silbenalphabet, die „Kana“. Diese Silbenschrift bestand aus stark vereinfachten chinesichen Zeichen in Grasschrift, sozusagen eine extrem kursive Variante. 
Diese Entwicklung in der Schriftgeschichte spiegelte sich in der Kalligraphie wieder und führte zu den feinen, langen, verbundenen Linien der „Kana“.

Abb. 11b.

Aus der Ausstellung des Kalligraphie-Klubs der 
Ritsumeikan University: Mit kräftigem Strich gesetzte Kana.
 (Aus dem Kokinwakashū, einer Gedichtanthologie)


Heute findet man alle diese Schrifttypen bereits in Kalligraphieausstellungen von Mittelschülern. Daneben hat die moderne Kalligraphie auch Kombinationen alter Stile oder gänzlich freie Stilvarianten hervorgebracht.

Abb. 12

Übersichtstafel der Schriftentwicklung. 

Von rechts horizontal angeordnet stehen in den weißen Kästen:
Orakelknochenschrift, Bronzeinschriften, Kleine Siegelschrift, Kanzleischrift.

Diese drei Schrifttypen sind (unter der geschweiften Klammer) 
unter dem Oberbegriff Siegelschrift zusammengefasst. 

Vertikal untereinander angeordnet stehen daneben die klassischen drei Schrifttypen
Regelschrift, Laufschrift und Konzeptschrift (von unten nach oben).
Eine gestrichelte Linie von der Kleinen Siegelschrift zur Konzeptschrift deutet an,
dass sich die Konzeptschrift gleichermaßen aus Siegel- und Kanzleischrift entwickelte.

Ganz links stehen in gestrichelten Kästen die beiden Arten der japanischen Kana.
Oben die Hiragana, unten die Katakana. Davon sind die Hiragana die in der klassischen Kalligraphie gebräuchlichen Zeichen. Diese beiden stellen die jüngsten Schriftformen dar.




Quellen der Bilder

1. Blog "Kanji Kigen" über die Ursprünge der Kanji (chinesische Schriftzeichen)
   http://kanji-roots.blogspot.jp/2012/06/blog-post_28.html

2.a./b. http://www11.tok2.com/home/awa/shorekisi/2/KOUKOTU.htm

3.a. http://de.wikipedia.org/wiki/Shanghai-Museum#mediaviewer/Datei:Dake_Ding.jpg
    Das "Dake-Ding" auf der Website des Shanghai Museum
http://www.shanghaimuseum.net/en/display/bronze.jsp

3.b. http://bronzeschinois.wordpress.com

4. http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/0b/Sumie.jpg

5. http://www.guoxue5.cn/rumen/shufa/700.htm

6.a. http://www.asagen.com/work23.html
6.b. http://unkaido.blogspot.jp/2013/02/blog-post_13.html

7.a. http://www.dajia777.com/archives/?m=3122&ID=3259
7.b. http://tebori.seesaa.net/category/8622357-1.html
7.c. http://ja.wikipedia.org/wiki/篆書体

8.a./b. http://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Seal_script?uselang=ja


9. Scan aus: KARITA, Kenzan: Jōyō Kanji no Rokutai. Nihonshūji-Fukyū-Kyōkai, 1985
     狩田巻山『常用漢字の六体』(日本習字普及協会)

10.  http://en.wikipedia.org/wiki/East_Asian_cultural_sphere
11.a.  http://www.nttdata-getronics.co.jp/csr/spazio/spazio64/koyama.htm
          aus: TAKADA, Takeyama: Gotai Jirui. Seitō-Shobō, 1946
          高田竹山『五體字類』(西東書房)
11.b. Eigene Aufnahme, Ausstellung der Ritsumeikan-Universität im Shinmyōin im Juli 2014

12.  http://kinoshitamariko.blog.ocn.ne.jp/photos/uncategorized/2011/01/19/photo_3.jpg









Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen